Keine Autos mehr in Wohngebieten
In vielen Städten werden am Ende des Jahrzehnts keine Autos mehr in
Wohngebieten unterwegs sein. Stattdessen konzentriert sich der Verkehr
auf wenige Achsen, ähnlich wie heute schon in Barcelona in den
„Superblocks“. Davon ist Jürgen Gerlach überzeugt, Leiter des Lehr- und
Forschungsgebiets Straßenverkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik
der Bergischen Universität Wuppertal. Die Menschen erobern sich den
Verkehrsraum zurück, prognostiziert Gerlach in einem Interview, das
gestern zum Auftakt des Deutschen Straßen- und Verkehrskongresses in
Dortmund veröffentlicht wurde: „Der Gewinn an Lebensqualität für alle
wird höher sein als der Verzicht eines Einzelnen, wenn er nun nicht mehr
gleich vor der Haustür parken kann.“ Außerdem werde es in der Mobilität
der Zukunft" keine Verkehrstoten mehr geben.
Gerlach ist Mitglied in mehreren Ausschüssen der Forschungsgesellscha!
für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV). Der private Verein erstellt das
Technische Regelwerk für das gesamte Straßen- und Verkehrswesen in
Deutschland und ist der Kongress-Veranstalter. Die FGSV stand lange in
der Kritik: Sie sei ein von Männern dominiertes Gremium, das sich immer
noch dem Leitbild der autogerechten Stadt verpflichtet fühle, war von
Wissenscha"lern und zivilgesellschaftlichen Organisationen
(h!ps://background.tagesspiegel.de/mobilitaet/man-kann-aus-autos-keinelu"-
rauslassen) zu hören. Nun hat die FGSV mit ihrem „E Klima“
(h!ps://www.fgsv-verlag.de/pub/media/pdf/990.v.pdf) eine erste Schritt
vorgelegt, wie ihre anderen Empfehlungen dazu beitragen können, die
Klimaschutzziele zu erreichen. Gerlach zeigte sich selbstkritisch: „Die
FGSV hä!e diese Themen schon viel früher ansprechen können.“
Auch der Fahrradclub ADFC ha!e die FGSV lange für ihre Kfz-
Freundlichkeit kritisiert. Nun fällt er ein milderes Urteil. „Der
angekündigte Paradigmenwechsel beim Straßenbau zugunsten der
klaren Förderung von Fuß, Rad und Nahverkehr macht Hoffnung“, sagt
ADFC-Bundesgeschäftsführerin Ann-Kathrin Schneider. Die FGSV müsse
es jetzt schaffen, die technischen Regelwerke „von der jahrzehntealten
Privilegierung des Autoverkehrs zu befreien“. In Überarbeitung sind derzeit
auch die FGSV-Empfehlungen für Radverkehrsanlagen aus dem Jahr 2010.
Für Schneider ist klar: „Der Radverkehr braucht breite, attraktive Wege in
zusammenhängenden Netzen und sichere Kreuzungen.“ Dies müsse sich
schnellstens in den deutschen Gestaltungsrichtlinien widerspiegeln.
Fahrradclub ADFC: Erster großer Wurf muss gelingen
Die Empfehlungen der FGSV sind für die Kommunen zwar nicht bindend.
Sie werden im Fall eines Gerichtsverfahrens jedoch als „objektiver Stand
der Technik“ anerkannt, Verkehrsplaner:innen sind damit auf der
sicheren Seite. Häufig tut sich die Gesellscha" jedoch schwer, zeitnah auf
aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Weil zwischen den
Veröffentlichungen meist viele Jahre liegen, mahnt auch der ADFC zu Eile.
Der erste große Wurf für die Radverkehrsanlagen müsse gelingen. Für
grundlegend reformbedür"ig hält der Verband alle für den Radverkehr
verbindlichen technischen FGSV-Regelwerke (RIN, RAL, RilSA, RSA-95,
RASt06). Die Forderung: Wie Straßenverkehrsgesetz und -Ordnung
müssten auch diese an übergeordneten politischen Zielen ausgerichtet
werden – wie Klimaschutz, Gesundheitsschutz und nachhaltiger
Stadtentwicklung.
Die FGSV bekennt sich in ihren Klima-Empfehlungen klar zu einer
Dekarbonisierung des Verkehrssektors. Um die Klimaziele zu erreichen,
empfiehlt sie unter anderem, die heutige Fahrzeugflotte durch leichtere,
emissionsarme oder -freie Fahrzeuge zu ersetzen. Damit diese auch
gekauft werden, sollten diese verstärkt gefördert und genutzt werden.
Außerdem spricht sich der Verein für ein „geringeres
Geschwindigkeitsniveau“ (Tempolimit) aus. Denn durch die längeren
Reisezeiten würden längere Fahrten reduziert und der Individualverkehr
auf den ÖPNV verlagert – eine „konkurrenzfähige Reisezeit“ vorausgesetzt.
Damit geht sie weiter als das Bundesverkehrsministerium, dessen Chef
Volker Wissing (FDP) gestern in Dortmund die Bedeutung des Kongresses
hervorhob.
Petra Schäfer ist die Leiterin des Arbeitsausschusses für ruhenden
Verkehr in der FGSV. Im Gespräch mit Background weist sie die Kritik an
der FGSV zurück. Die Arbeitskreise und -gruppen würden die
Empfehlungen zwar zunächst intern beraten, holten jedoch auch die
Meinung von Fachverbänden ein. Was die Schnelligkeit der
Veröffentlichungen angeht, sieht sie aber Verbesserungsbedarf. Denn die
FGSV-Mitglieder machen ihre Arbeit ehrenamtlich. „Ein Büro, das in
intensiven Phasen wie jetzt bei der redaktionellen Arbeit unterstützt, wäre
hilfreich“, sagt Schäfer.
Jutta Maier
„Keine Autos mehr in Wohngebieten“ - Tagesspiegel Background 06.10.22, 10:38
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